Es gibt ein neues Radwegurteil (2019) für Mecklenburg. Dabei handelt sich nicht um irgendein Urteil eines Verwaltungsgerichtes, es handelt sich um ein Urteil des Oberverwaltungsgericht Greifswald zur Anordnung der Radwegbenutzungspflicht an einer innerörtlichen, viel befahrenen Straße. Aber der Reihe nach:
Wie alles begann
Der Fall ist schon älter und begann eigentlich im Jahr 2013. Vor sechs Jahren habe ich die Neubescheidung für einige Radwegbenutzungspflichten beantragt. Unter anderem auch die auf einem untermaßigen Radweg in der Inselstraße Redentin in Richtung Insel Poel. Jener Radweg wird durch eine 1m breite rote Pflasterung als baulich angelegt dargestellt (so wie in Wismar allgemein üblich). Leider hat dieser “Radweg” einige Schönheitsfehler. Nicht nur das er mit seiner Breite viel zu schmal ist, so fehlt es stellenweise (wegen der Platzverhältnisse) am notwendigen Gehweg für die Anwohner und das Wegelchen führt dann auch noch durch eine Bushaltestelle (da bleibt kein Aufstellbereich für die Fahrgäste) und durch den imaginären Aufstellbereich an einer Fußgängerampel. Kurzum es handelt sich um einen typischen “Alibiradweg” mit dem man die Radfahrer von der Fahrbahn verdrängt. Weitere Details können im Artikel “Wismarer Radwege der Prozess” vom 1.12.2015 nachgelesen werden.
Mit Argumenten war der Behörde nicht beizubringen das es hier eigentlich keine Benutzungspflicht geben kann, so kam es zur Klage vor dem Verwaltungsgericht in Schwerin. Über das Resultat habe ich im Eintrag “Verwaltungsgericht Schwerin urteilt” berichtet. Die Klage wurde abgewiesen. In jenem Verfahren wurde ich durch den Rechtsanwalt Dr. Dietmar Kettler († 05.2019) vertreten. Dr Kettler war auf dem Gebiet des Radfahrer- und Verwaltungsrechts fachlich brillant aufgestellt. Dieser war entsetzt über das gefällte Urteil des Verwaltungsgerichts Schwerin.
Daraufhin beantragte Dr. Kettler im Dezember 2015 die Zulassung zur Berufung wegen erheblicher Bedenken an der Richtigkeit des Urteils. Eine umfangreiche 7 Seitige Begründung folgte dann. Die Hansestadt Wismar beantragte mit einer kurzen A4 Seite die Berufung abzulehnen.
Berufung vom OVG Greifswald zugelassen
Am 4. Juli 2019 hat das Oberverwaltungsgericht Greifswald durch den 1. Senat die Berufung wegen ernsthafter Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zugelassen.
Die Verhandlung wurde auf Ende Oktober gelegt. Zur Verhandlung erschienen von den Beklagten der Sachbearbeiter aus der Straßenverkehrsbehörde und eine Juristin der Stadt. Ich war ebenfalls anwesend und wurde von RA Volkmann aus Berlin vertreten, da Dr. Kettler zwischenzeitlich leider verstorben ist.
Die Berufungsverhandlung
Der Anfang einer solchen Verhandlung ist völlig entspannt. Der Berichterstatter trägt den bisherigen Verlauf des Streits vor, welcher hier mit der Erkenntnis der Zulassung zur Berufung endete.
Danach wurde die Sachlage noch einmal von beiden Seiten erörtert. Dabei auch Bezug auf die aktuelle Beschilderung mit VZ 240 (gemeinsamer Geh- und Radverkehr) also auf den Mischverkehr genommen. Die Behörde trug vor das sie die Benutzungspflicht bei Einschätzung einer Gefahrenlage anordnen dürfe und da es sich hier klassisch schon wegen der hohen KFZ Zahlen um eine solche Gefahrenlage handle. Und im übrigen wäre durch die ERA 2010 für die hier herrschenden Verkehrszahlen ja mit der Tabelle 8 (S. 18) eine Radwegbenutzungspflicht vorbestimmt.
Die Klägerseite trug daraufhin vor, das es sich um eine ganz klassische Situation einer solchen Straße handelt, in welcher die ganz normalen Risiken des Straßenverkehrs herrschen, also nichts außergewöhnliches anzutreffen ist. Als Kläger trug ich ferner vor, das sich erst durch die Benutzungspflicht viele Gefahren zusätzlich für den Radfahrer auftun, gerade durch die Engstellen “schmaler Weg”, Bushaltestelle, Ampelanlage, Grundstückszufahrten und das alles im Gefälle.
Die Richter gaben zu, das die ERA sich hier zur Benutzungspflicht äußert, kamen aber auch mit anderen Auszügen aus der ERA, wonach auch bestimmte Bedingungen der Qualität des Radweges einzuhalten seien. Das Gericht hinterfragte dann die weitere Örtlichkeit, in der Akte befindliche Bilder wurden der Strecke auf der Karte zugeordnet. Einige neue Bilder wurden zur Akte gegeben. Dann kamen die ersten konkreten Fragen des Gerichts an die Behörde.
Gefälle im Streckenverlauf
Einer der Richter brachte dann das Gefälle von teilweise 4% in die Abwägung ein und wies darauf hin, dass die ERA in Abschnitt 3.6 bei Gefälle >3% die Führung des Radverkehrs mit Fußgängern im Mischverkehr ausschließt. Und das die Behörde bei ihrer Abwägung ja nicht nur die Tabelle 8 aus der ERA herauspicken könne, sondern auch auf Beschaffenheit und Örtlichkeit Rücksicht zu nehmen hätte.
Die Behörde versuchte hier mit einer geringen Radfahrerstärke zu kontern, was wir als Klägerseite jedoch widerlegten, da es sich laut Ausführungen der Behörde im vorherigen Schriftwechsel ja um eine Touristische Hauptstrecke für den Radverkehr zur Insel Poel handelt.
Der folgende Einwand einer der Richter war dann etwas desaströser für die Verwaltungsbehörde. Jener Richter brachte noch einmal das Argument des Gefälles vor und fragte die Behörde, warum denn in der Gegenrichtung (4% Steigung) kein Radweg angelegt Sei, obwohl dort lt. ERA eigentlich einer angelegt werden müsste. Antwort: “Da ist einfach kein Platz und die Radfahrer sollen das eigentlich über eine Nebengasse umfahren.”
Überholverbot auf der Fahrbahn
Im weiteren Verlauf kam man dann auf den Begegnungs- und Überholverkehr auf der Fahrbahn zu sprechen. Auch hier gab es wieder eine Initiative der Richter, das Ermessen und die Entscheidung der Behörde zu überprüfen. Die Behörde argumentierte mit der Breite der Fahrbahn und der Unmöglichkeit den Radfahrer im “Gegenverkehr” ohne Gefährdung zu überholen (ERA 3.1 Fahrbahnbreite und Verträglichkeit) Worauf der Richter anmerkte, das auf betreffender Strecke durch die durchgezogene Linie ohnehin das Überholen verboten sei. Auf den Einwand das die KFZ Fahrer sich daran nicht hielten konterte der Richter mit dem Durchsetzungsdefizit der Behörden, die dem Radfahrer aber nicht zum Nachteil ausgelegt werden können.
Tempo 30 als milderes Mittel
Dann wurde vom Gericht nach der Möglichkeit von Tempo 30 gefragt, da Tempo 50 ja nur die Maximalgeschwindigkeit sei, die aber keineswegs garantiert wird. Was die Behörde ausschloss, da sich daran keiner hielte. Ich gab zu Protokoll, das unmittelbar vorher für 400m innerorts Tempo 70 angeordnet sei und das sicher auch zur Geschwindigkeitsüberschreitung beiträgt, da nach so kurzer Strecke kaum jemand wieder auf 50 km/h abbremst.
Umbau fand vor 20 Jahren statt
Auf die Frage warum und wann dort die Benutzungspflicht mal eingerichtet worden sei, trug die Stadt vor, dass es sich vor dem Umbau vor 20 Jahren um einen Unfallschwerpunkt gehandelt hätte und deswegen die gesamte Straße neu aufgeteilt worden sei. Seit dem Umbau damals gäbe es keine Unfälle mehr auf dieser Strecke. Auf Nachfrage des Gerichts, ob es heute Auffälligkeiten gibt, kam ein klares “Nein” von der Verwaltung. Auf nochmalige Nachfrage ob es sich “damals” auch um Unfälle mit Radfahrerbeteiligung gehandelt hätte, gab die Straßenverkehrsbehörde an, dass es sich um KFZ Unfälle handelte und keine Radfahrerbeteiligung bekannt sei.
Aneinanderreihung von Engstellen
Es folgte dann vom Gericht noch ein kurzer Exkurs zum Thema Engstellen. Auch hier argumentierte die Behörde mit geringen Einschränkungen für den Radfahrer durch die wenigen Engstellen. Die Richter erkannten aber eine Aneinanderreihung von Engstellen. Das beginnt mit den ersten 50 Metern, gefolgt von der Bushaltestelle, dem Aufstellbereich an der Ampelanlage und gipfelt dann am Ende des Gefälles mit einer schmalen Strecke so dass dort bereits durch die Anlieger Verkehrsspielgel an den Ausfahrten angebracht worden sind.
Bauliche Ausführung versus VZ 240
Im Verlauf der Verhandlung kam das Gericht auf die Frage der Irreführung der Radfahrer zu sprechen. Schließlich sei der betreffende Weg der nun als gemeinsamer Geh- und Radweg ausgewiesen sei nach seiner Bauausführung mit der 1m breiten roten Pflasterung neben grauen Gehwegsteinen für Radfahrer als baulich getrennter Radweg zu erkennen. Die Anordnung der Behörde jedoch weist etwas völlig anderes aus. Es wurde gefragt, ob sich aus dieser Diskrepanz aus Sicht der Behörde nicht neue Gefahren ergeben. Der Radfahrer ist nach dem Augenschein der Bauausführung auf einem getrennten Radweg mit den erweiterten Rechten unterwegs, die Anordnung verlangt allerdings die Unterordnung unter die schwächeren Fußgänger. Da diese Anordnung (von VZ 241 zu VZ 240) vor 4 Jahren getroffen wurde, fragte das Gericht, warum der Weg in seiner Bauausführung inzwischen nicht der Anordnung angepasst wurde? Es gibt schon wegen der Platzverhältnisse und notwendigen aktuellen Mindestbreiten keine Trennung mehr, wie sie hier durch den in Wismar üblichen Belag vorgegaukelt wird.
Zum angesprochenen Risiko äußerte sich der Vertreter der Stadt nicht, er führte die für den Umbau (Umpflasterung) entstehenden Kosten als unzumutbar hoch an. Das wäre gegenüber den Entscheidern in seiner Verwaltung nicht vermittelbar.
Der Verwaltungsvertreter erklärte weiter, dass die Platzverhältnisse nach den damals geltenden Regeln völlig ausreichend gewesen seien für ein Trennung und auch deswegen wird die Benutzungspflicht dort weiterhin für richtig gehalten. Die Stadt könne ja nicht die Radwege umbauen nur weil sich die Vorgaben änderten, vom vorhandenen Platz mal völlig abgesehen.
Daraufhin gab das Gericht der Stadt mit auf den Weg, das sie sich bei einer Neubescheidung, und darum handele es sich hier ja, jeweils an die zum Zeitpunkt der Neubescheidung herrschenden geltenden Regeln und Normen zu halten habe. Die Behörde sei ja sogar verpflichtet ihre Daueranordnungen regelmäßig auf die Aktualität und Notwendigkeit zu überprüfen und zu hinterfragen.
Radfahrer frei anstatt Benutzungspflicht
Dann die direkte Frage einer der Richter des Senats an den Verwaltungsmitarbeiter: “Haben Sie im Zuge der Entscheidung über die Beschilderung mit “Radfahrer frei” als Möglichkeit in Betracht gezogen?” – Darauf die prompte Antwort: “Nein“
Gedankenpause, Stille im Saal. Dann der Einwand der Juristin der Stadt, selbstverständlich wäre das Gegenstand der Betrachtung und Entscheidungsfindung aber es wurde dann verworfen weil (ich weiß nicht mehr genau was sie da noch genuschelt hat)…
Eine solche Überprüfung der Ermessensausübung und der Abwägung wie es dieses Gericht in der Verhandlung tat hätte ich mir bereits in der Verhandlung der ersten Instanz gewünscht. Die Richter hatten sich mit der Materie auseinandergesetzt, schienen eingearbeitet in die Tiefen der ERA 2010. Und haben im Gegensatz zu unserer Straßenverkehrsbehörde nicht nur bis zum 2. Kapitel gelesen.
Dann stellten beide Parteien ihre Anträge. Die Verhandlung wurde nach fast 1,5 Stunden geschlossen und es begann eine unruhige und lange Nacht.
Das Urteil
Am nächsten Tag gab es dann die Auflösung der Spannung. Ein Anruf in der Geschäftsstelle des OVG ergab das die Benutzungspflicht aufzuheben ist. Das Urteil der VG Schwerin ist abgeändert.
Nun bin ich gespannt auf die schriftliche Begründung. Mehr dazu dann im Teil 2 nach Zustellung des Urteils.